Objekt des Semesters – Sommersemester 2021​

Der Mythos des „Ewigen Juden“ und seine Repräsentation in Kunst und Kultur

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler/Philippe Pierret

Die massive, über einen halben Meter hohe Bronzeskulptur des belgischen Bildhauers Alfons De Wispelaere aus dem Jahr 1919 stellt einen bärtigen, mit wallendem Umhang und Sandalen bekleideten Mann dar, der auf einem Felsen steht. Er hat Schläfenlocken, trägt eine Kopfbedeckung, die an eine Kippa erinnert und stützt sich mit der rechten Hand auf einen Wanderstab. Auffällig ist die Physiognomie des Dargestellten: Sie zeichnet sich durch eine ausgeprägte, hakenförmige Nase und verzerrte Gesichtszüge aus, die dem Mann einen gequälten und gleichzeitig hämischen, verschlagenen Ausdruck verleihen. Der wallende Charakter des Umhangs, die Barfüßigkeit und der Wanderstab sprechen dafür, dass es sich bei dieser Skulptur um eine plastische Repräsentation der mythischen Figur des „Ewigen Juden“ handelt,[1] die durch die stigmatisierende Attribuierung mit einer vermeintlich „jüdischen Physiognomie“ deutliche Merkmale der antisemitischen Darstellungstradition aufweist.[2]
Der 1879 in Brügge geborene Alfons De Wispelaere entstammte einer Familie von Bildhauern. Spezialisiert auf christlich-religiöse Kunst, fertigten sie u. a. Skulpturen, Statuen, Dekorationen und Möbel für zahlreiche Kirchen, Kathedralen und Kapellen in Belgien sowie im europäischen Ausland und den USA an. Neben kirchlichen Aufträgen waren die De Wispelaeres auch auf dem Gebiet der profanen Inneneinrichtung tätig. Über die konkreten Produktionsbedingungen, den Verwendungszweck und die Provenienzen unseres „Objekt des Semesters“ ist derweil bis dato nichts bekannt. Alfons De Wispelaere starb im Jahr 1957 in seiner Geburtsstadt Brügge.[3]
Bronzeskulptur der mythischen Figur des „Ewigen Juden“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 8910

Die Legende vom „Ewigen Juden“ (mitunter auch: „Wandernden Juden“), der angeblich Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung nicht vor seinem Haus habe rasten lassen und deshalb zu ewiger Wanderschaft verdammt sei, geht zurück bis ins frühe Mittelalter. Mit der nur achtseitigen Schrift Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus, die 1602 anonym im Umfeld der protestantischen Reformationsbewegung erschien, wurde die zuvor namenlose Gestalt als jüdischer Schuster mit dem Namen Ahasverus personifiziert.[4] Die wirkmächtige Broschüre wurde noch im 17. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, sodass sie eine weite Verbreitung in Europa erfuhr.[5] 

Gleichzeitig entwickelte sich eine mündliche Erzähltradition, die von Aufenthalten des „Ewigen Juden“ an verschiedenen Orten berichtete. Die angebliche Mitschuld Ahasvers am Leiden und Tod Christi trat dabei immer mehr in den Hintergrund, vielmehr wurde sein rastloses Wandern zum „Paradigma für die Schicksale seines Volkes“.[6] 
Hier liegt die Bedeutung der Ahasver-Legende für die Entwicklung der Judenfeindschaft. Die Figur des „Ewigen Juden“ versinnbildlichte zunehmend keine einzelne Person mehr, sondern das heimatlose jüdische Volk in der Diaspora.[7] Jüdinnen und Juden wurden kollektiv als ewige Fremde, als Kosmopoliten oder als „Nation innerhalb der Nation“ gesehen, die – ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft, ihres gesellschaftlichen Aufstiegs und aller patriotischen Bekenntnisse – zu keiner Nation gehören konnten und denen eine supranationale Loyalität gegenüber ihren Glaubensbrüdern und -schwestern in anderen Ländern unterstellt wurde.[8] Dabei wurde und wird das Attribut „ewig“ aus antisemitischer Perspektive als Hinweis auf eine zeitlose Unwandelbarkeit und Verstocktheit „der Juden“ gegenüber der christlichen Heilslehre[9] sowie als „Beleg“ für vermeintlich unveränderliche „rassische“ und charakterliche Eigenschaften begriffen. Analog zu anderen antisemitischen Mythen und Stereotypen passte sich auch die Figur des „Ewigen Juden“ vom Mittelalter bis heute an unterschiedlichste kulturelle und historische Kontexte an.
Den Nationalsozialisten diente der „Ewige Jude“ – weitgehend losgelöst von der Ahasver-Legende – als „Inkarnation des Jüdischen“, als ein Feindbild, mit dem man Jüdinnen und Juden kollektiv stigmatisierte.[10] Das Werbeplakat zur NS-Ausstellung „Der ewige Jude“, die im November 1937 in München eröffnet wurde, zeigte eine sinistre Gestalt mit einer Geißel, einer Weltkarte des Bolschewismus sowie Münzen und ist bis heute ein prominentes Beispiel antisemitischer Bildsprache. Die Ausstellung wie auch der gleichnamige Propagandafilm von 1940, der durch seine Vergleiche von Jüdinnen und Juden mit Ratten sowie brutale Schächtszenen an die niedersten Instinkte der Zuschauer*innen appellierte,[11] sollten anhand der Konstruktion des nach der Weltherrschaft strebenden, unsteten und unproduktiven „Ewigen Juden“ ein abstoßendes Gegenbild zum „werteschaffenden Arier“ erzeugen und bereiteten damit den Weg für die Ermordung der europäischen Juden.
Die Figur des zu ewiger Wanderschaft verdammten Ahasver, die nicht durchgängig antisemitisch interpretiert wurde,[12] hat über die Jahrhunderte zahlreiche – auch jüdische – Schriftsteller, Philosophen und Publizisten, von Johann Wolfgang von Goethe über Arthur Schopenhauer, Ludwig Börne bis hin zu Egon Erwin Kisch, inspiriert.[13] Gleiches gilt für die Malerei: Das Repertoire reicht von der antisemitischen Darstellung des „Ewigen Juden“ in Wilhelm Kaulbachs monumentalem Gemälde „Die Zerstörung Jerusalems durch Titus“ von 1846 bis zu den berühmten Zeichnungen Marc Chagalls.[14]
[1] Für einen Überblick über künstlerische Darstellungen der Figur des „Ewigen Juden“ siehe: Richard I. Cohen, The „Wandering Jew“ from Medieval Legend to Modern Metaphor, in: Barbara Kirshenblatt-Gimblett/Jonathan Karp (Hrsg.), The Art of Being Jewish in Modern Times, Philadelphia 2008, S. 147-175.
[2] Zur Geschichte antisemitischer Darstellungsformen und zum Konstrukt der „jüdischen Physiognomie“ siehe: Peter K. Klein, „Jud, dir kuckt der Spitzbub aus dem Gesicht!“ Traditionen antisemitischer Bildstereotypen und die Physiognomie des ‚Juden‘ als Konstrukt, in: Helmut Gold/Georg Heuberger (Hrsg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney, Heidelberg 1999, S. 43-78.

[3] Vgl. den Eintrag De Wispelaere – een Brugs kunstenaarsgeslacht auf dem Blog des Brügger Auktionshauses Rob Michiels Auctions, o. D., https://www.rm-auctions.com/nl/blog/de-wispelaere—een-brugs-kunstenaarsgeslacht- [abgerufen am 06.05.2021]. 

[4] Vgl. Mona Körte, Ahasverus, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 3-6, hier S. 3.
[5] Vgl. Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010, S. 9.
[6] Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 249.
[7] Vgl. Benz, „Der ewige Jude“, S. 10.

[8] Vgl. dazu exemplarisch: Dominique Schnapper, Le Juif errant, in: Yves Lequin (Hrsg.), Histoire des étrangers et de l’immigration en France, Paris 1992, S. 363-377; Michael Woolf, The Wandering Jew, in: Frontiers. The Interdisciplinary Journal of Study Abroad 30 (2018) 1, S. 20-32.

[9] Vgl. Körte, Ahasverus, S. 4.
[10] Benz, „Der ewige Jude“, S. 12 f.
[11] Zum NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“ siehe: Benz, „Der ewige Jude“, S. 139-157.
[12] Siehe dazu exemplarisch: Galit Hasan-Rokem, Ahasver, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 1: A-Cl, Stuttgart 2011, S. 9-13.
[13] Vgl. dazu: Mona Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik, Frankfurt a. M. 2000.
[14] Vgl. Cohen, The „Wandering Jew“, hier insbesondere S. 153-174.