Objekt des Semesters – Sommersemester 2022

„Gruss aus Borkum“. Postkarten als Zeugnisse des Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler

Mit über 3500 Exemplaren stellen antisemitische Postkarten die mit Abstand größte Objektgruppe innerhalb der Sammlung Langerman dar. Ein großer Teil dieser Postkarten kann zu den sogenannten Judenspottkarten gezählt werden. Dabei handelt es sich um Bildpostkarten mit judenfeindlichem Inhalt, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern verbreitet waren und Jüdinnen und Juden lächerlich machten, diffamierten und als nicht zugehörig darstellten, indem sie ihnen eine unveränderliche körperliche wie kulturelle Andersartigkeit zuschrieben.[1] Nicht wenige der in der Sammlung Langerman vorliegenden Judenspottkarten sind dem sogenannten Bäder-Antisemitismus zuzurechnen. Dieser Begriff bezeichnet die alltägliche Feindseligkeit, mit der jüdische Gäste seit den 1870er-Jahren in diversen Kur- und Badeorten im Deutschen Reich und anderen Staaten konfrontiert waren.[2]
In der Regel fußte der Bäder-Antisemitismus weniger auf einer lokalen judenfeindlichen Tradition, sondern ging von den Gästen aus. Vielerorts unterstützten die örtlichen Kur- und Badeverwaltungen sowie die Einheimischen das antisemitische Verhalten ihrer Besucher jedoch, nicht zuletzt aus ökonomischen Interessen: Durch die Entwicklung eines Badeorts zu einem Anziehungspunkt für judenfeindliche Touristen wurde der Bäder-Antisemitismus zu einem „einträgliche[n] Geschäft“.[3]
Besonders stark von diesem Alltagsantisemitismus betroffen waren jüdische Gäste in jüngeren Bädern. Diese zogen vor dem Hintergrund des zunehmenden Tourismus verstärkt Gäste aus dem Mittelstand und dem Kleinbürgertum an, die mit einer Reise ihren sozialen Aufstieg unter Beweis stellen wollten, sich aber keine teuren Hotels in etablierten Bädern leisten konnten.[4] Viele von ihnen betrachteten Jüdinnen und Juden, die infolge ihres sozialen Aufstiegs im 19. Jahrhundert ebenfalls an der Entwicklung des Tourismus teilhatten, voller Neid und Missgunst als unliebsame Konkurrenten. Sie stigmatisierten sie als Parvenüs, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu unrecht erlangt hätten und denen aufgezeigt werden sollte, dass sie nicht dazugehörten. Da das verfassungsrechtlich garantierte Freizügigkeitsrecht jedoch verhinderte, dass Jüdinnen und Juden das Betreten eines Ortes untersagt werden konnte, versuchten die Antisemiten, jüdischen Gästen ihren touristischen Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten und sie regelrecht zu vertreiben.

Ein Badeort, der sich bei diesen Bestrebungen besonders hervortat und seit den 1880er-Jahren als Hochburg des Bäder-Antisemitismus galt, war die Nordseeinsel Borkum. In einem Inselführer von 1897 wurde Borkum als „judenrein“ bezeichnet,[5] zwei Jahre später führte der Ort eine von der Allgemeinen Zeitung des Judentums publizierte Liste von Badeorten und Sommerfrischen an, die keine jüdischen Gäste wünschten.[6] Unser „Objekt des Semesters“ ist eine antisemitische Postkarte mit dem Titel „Gruss aus Borkum“ aus dem Verlag von E. Adami in Emden, die Ende Juli 1901 aus Borkum an eine gewisse Hede Trümper in Berlin gesendet wurde und zwei wesentliche Ausdrucks- und Propagierungsformen des Bäder-Antisemitismus der Kaiserzeit – judenfeindliches Liedgut und judenfeindliche Bildpostkarten – vereint.

Antisemitische Bildpostkarte „Gruss aus Borkum“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 2624
Die Bildseite zeigt den Text des „Borkum-Lieds“, das auf der Insel bereits in den 1890er-Jahren nach der Melodie des „Kaisermarsches Hipp, hipp, hurrah!“ gesungen wurde.[7] Nach einer Lobeshymne auf die Schönheit der Insel Borkum endete das Lied in dieser ersten Version mit den Zeilen: „Doch wer dir naht mit platten Füßen,/Mit Nasen krumm und Haaren kraus,/Der soll nicht deinen Strand genießen,/Der muß hinaus! der muß hinaus!/Hinaus!“ Detlev Claussen nannte das allabendliche Abspielen des Lieds eine „Borkumer Spezialattraktion“.[8] Seine Einschätzung teilten auch die Absender der Postkarte: „Dieses Lied“, so notierten sie im Anschluss an eine Schilderung der Urlaubsidylle und die Übersendung herzlichster Grüße, „wird jeden Abend punkt 10 Uhr hier am Strande gesungen, kein Badegast kann sonst ruhig schlafen, wenn er das Lied nicht mitgesungen hat“.
Die unmissverständliche antisemitische Aussage des „Borkum-Lieds“ wird bildlich begleitet von einer ebenso eindeutigen Karikatur: Einer Familie, die durch ihre verzerrten Physiognomien und Körper als „jüdisch“ markiert ist, wird der Zutritt zu einem Festsaal verwehrt, während die nichtjüdischen Kurgäste im Innern ausgelassen singen und feiern.
Derartige Postkarten „sind ein triviales, aber aussagekräftiges Medium, an dem sich die vielfältigen Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus zeigen lassen“ und bilden „einen wichtigen, in der Antisemitismusforschung lange Zeit kaum beachteten Indikator für die Verbreitung judenfeindlicher Vorurteile und Stereotypen“.[9] Obgleich – oder gerade weil – hinsichtlich ihrer Urheber, Herausgeber, Produktionskontexte, Auflagen, Verbreitung, Nutzergruppen, Nutzungspraktiken und Rezeption noch erhebliche Forschungsdesiderata bestehen, stellen sie besonders wertvolle Quellen für die Erforschung der Geschichte des Alltagsantisemitismus dar.
Nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte sich der Bäder-Antisemitismus. Nicht mehr das Fernhalten jüdischer Gäste aus einzelnen Badeorten war nun das Ziel, sondern die Vertreibung derselben aus den touristischen Zielen sollte als Blaupause für ein „judenreines“ Deutsches Reich dienen.[10] Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten veränderte sich die Situation in den Kur- und Badeorten noch einmal gravierend. Bis dahin waren die Initiativen gegen jüdische Gäste meist „von unten“ ausgegangen. Nun wurden die neu eingesetzten Gemeinde- und Kurverwaltungen sowie die örtliche NSDAP aktiv und verboten Jüdinnen und Juden die Benutzung der Bäderinfrastruktur sowie das Betreten des Strandes.[11]
[1] Vgl. dazu Peter K. Klein, Judenspottkarten, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2015, S. 228-232.
[2] Vgl. Frank Bajohr, Bäder-Antisemitismus, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 37-40, hier S. 37.

[3] Frank Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003, S. 15 f.

[4] Vgl. Frank Bajohr, Das Zinnowitzlied: Ein Symbol des Bäder-Antisemitismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Eine Online-Quellenedition, online veröffentlicht am 22. September 2016, https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-86.de.v1 [abgerufen am 01.02.2022].

[5] B. Huismann, Die Nordseeinsel Borkum einst und jetzt, Borkum 1897, S. 119. Zitiert nach: Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“, S. 12.
[6] Vgl. Michael Wildt, „Der muß hinaus! Der muß hinaus!“ Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920-1935, in: Mittelweg 36 (2001) 4, S. 3-25, hier S. 12.
[7] Vgl. Bajohr, Das Zinnowitzlied.
[8] Detlev Claussen, Vertreibung aus dem Urlaubsparadies. Über den Borkumantisemitismus, in: Helmut Gold/Georg Heuberger (Hrsg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney, Heidelberg 1999, S. 251-255, hier S. 252.
[9] Klein, Judenspottkarten, S. 229.
[10] Vgl. Bajohr, Bäder-Antisemitismus, S. 39. 
[11] Vgl. Wildt, „Der muß hinaus!“, S. 19 f. und 23.