Objekt des Semesters – Wintersemester 2020/21

Von der mittelalterlichen Brunnenvergiftung zu COVID-19. Antisemitische Verschwörungsfantasien in Zeiten von Epidemien

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler/Juliane Wetzel

Fast 20 Prozent der Britinnen und Briten stimmten im Mai 2020 – auf dem vorläufigen Höhepunkt der COVID-19-Pandemie in Europa – in einer repräsentativen Umfrage von klinischen Psychologen der University of Oxford der Aussage „Jews have created the virus to collapse the economy for financial gain“ teilweise bis voll und ganz zu.[1]

Sie offenbarten damit, wie wandlungs- und anpassungsfähig antisemitische Stereotype über die Jahrhunderte hinweg sind. Der Topos von Jüdinnen und Juden als vermeintlichen Krankheitsverursachern und gleichzeitigen Profiteuren ist seit dem 14. Jahrhundert ein stets wiederkehrendes Element antijüdischer Zuschreibungen. Epidemien wie Lepra, Pest, Cholera, Typhus, Schweinegrippe, Ebola, Vogelgrippe, SARS und COVID-19 boten und bieten eine willkommene Plattform für antisemitische Verschwörungsfantasien, die Juden als Unruhestifter, Krisenauslöser und -gewinnler sowie Verursacher allen Übels imaginieren.

Als zentrales Motiv, das seit dem Mittelalter über die Jahrhunderte tradiert und insbesondere in Krisenzeiten immer wieder reaktiviert wurde und wird, gilt die Anschuldigung, Juden würden Brunnen vergiften. Unser „Objekt des Semesters“ zeigt eine visuelle Repräsentation dieses Motivs, die Ende des 19. Jahrhunderts in der illustrierten Ausgabe des beinahe tausend Seiten umfassenden Hauptwerks des seinerzeit einflussreichsten französischen Antisemiten Édouard Drumont, La France juive, erschien (Abbildung 1).[2]
Abb. 1: Lithografie einer angeblichen Brunnenvergiftung
Aus: Édouard Drumont, La France juive, siehe Anm. 2

Vor dem Hintergrund einer dörflichen Szenerie sind drei um einen Brunnen gruppierte Figuren zu sehen. Die linke männliche Person ist durch ihre bandagierten Gliedmaßen als Leprakranker markiert. Die mittlere Figur, die wegen der Fußlappen wohl ebenfalls als leprakrank inszeniert werden soll, gießt eine Flüssigkeit aus einem Krug, der einem zur rituellen jüdischen Waschung verwendeten Aquamanile gleicht, in den Brunnen. Mit deutlichem Abstand zu den Leprakranken dominiert das Geschehen ein Mann in dunkler Kleidung, der als Strippenzieher über die geheime Aktion zu wachen scheint. Diese Figur weist einige zentrale Elemente der antisemitischen Darstellungstradition auf. Das typische Konstrukt einer „jüdischen Physiognomie“ manifestiert sich in seiner langen, leicht gekrümmten Nase, optisch verstärkt durch die heruntergezogenen Mundwinkel und den Vollbart, sowie einem Gesichtsausdruck, der als verschlagen wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zu den beiden anderen Figuren, die eine typisch mittelalterliche Gürteltasche tragen, ist „der Jude“ mit einem Geldsack attribuiert, der auf das klassische judenfeindliche Stereotyp des angeblichen jüdischen Reichtums und der Geldgier anspielt.

Die Entstehungs-, Herkunfts- und Produktionsumstände der Lithografie sind weitgehend ungeklärt.[3] Kein Zweifel besteht hingegen an Drumonts Interpretation, die er in der Bildlegende unmissverständlich formulierte: „Les Juifs avaient organisé une conspiration de lépreux pour empoisonner les fontaines.“ [Die Juden hatten eine Verschwörung Leprakranker organisiert, um die Brunnen zu vergiften.]. Drumont rekurrierte damit auf einen antijüdischen Mythos, der 1321 seinen Anfang in Südfrankreich nahm: Juden hätten im Verborgenen Leprakranke instrumentalisiert und dafür bezahlt, Quellen und Brunnen zu vergiften, um sich an den Christen zu rächen, sie mit der Krankheit zu infizieren und ihre Zahl zu dezimieren.[4] Diese Vorstellung erwies sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten als äußerst hartnäckig und anpassungsfähig,[5] wurde während verschiedener Epidemien reaktiviert und diente – wie 1348/49 im Zuge der großen Pestepidemie in Europa – als Vorwand für massive gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung.[6]
Bis heute ist antisemitisches Verschwörungsdenken weltweit verbreitet und bricht sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie in unzähligen Blogs, Imageboards und in den sozialen Medien – oftmals in Form von Memes, Karikaturen und Fotomontagen – erneut Bahn.[7] Besonders häufig findet sich dabei das antisemitische Meme des „Happy Merchant“, das seinen Ursprung in der rechtsextremen US-amerikanischen „White Supremacist“-Bewegung der 2000er-Jahre hat. Es taucht im Internet in unzähligen Abwandlungen vorwiegend auf den Plattformen 4chan, 8kun, Gab, Telegram und Reddit auf und bedient Verschwörungsfantasien vom christlichen Antijudaismus über rassistische Formen bis hin zu Holocaustleugnung und israelbezogenem Antisemitismus.

Die Stürmer-ähnliche Karikatur zeigt eine Fratze mit einer überzeichneten Nase, einem ungepflegten Vollbart, mit Kippa, sich hinterlistig ins Fäustchen lachend und die Hände reibend ob des zu erwartenden finanziellen Gewinns (siehe hier). Attribuiert mit einer Spritze und einem doppeldeutigen Warnschild stellt sie – wie seinerzeit der angeblich „Brunnen vergiftende Jude“ – ein einfaches Mittel dar, um „die Juden“ zum Sündenbock für die globale Krise in Folge der COVID-19-Pandemie zu deklarieren und eine vermeintlich simple Erklärung für komplexe, schwer zu verstehende Sachverhalte zu liefern: „Die Juden“ würden das Virus verbreiten, um von der Krise wie vom zu entwickelnden Impfstoff zu profitieren.

Einmal mehr wird hier deutlich, wie sich antisemitische Stereotype und Verschwörungsideen von Juden den Zeitläuften in immer neuen Varianten anpassen können. Dass dabei auch der alte Mythos der Brunnenvergiftung nicht nur strukturell, sondern beinahe wortwörtlich reaktiviert werden kann, zeigt eine Äußerung des Kochbuchautors Attila Hildmann aus dem Mai 2020. Der selbsternannte Aktivist in der Szene der COVID-19-Verschwörungsfantasten, der sich gern als Galionsfigur der „Hygiene-Demos“ gegen die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geriert, behauptete in einem Post seines Telegram-Accounts, Beruhigungsmittel seien ins Trinkwasser gemischt worden und er habe „seit 2 Tagen EXTREME Müdigkeitsanfälle“.[8] Wie eng solche kruden Fantasien mit antijüdischen Stereotypen verknüpft sind, zeigte sich nur wenige Wochen später, als Hildmann wegen hetzerischer antisemitischer Äußerungen im Internet auffiel.[9]

[1] Daniel Freeman et al., Coronavirus Conspiracy Beliefs, Mistrust, and Compliance with Government Guidelines in England, in: Psychological Medicine, online veröffentlicht am 21. Mai 2020, https://doi.org/10.1017/S0033291720001890 [abgerufen am 16.06.2020], S. 6.

[2] Édouard Drumont, La France juive. Essai d’histoire contemporaine. Édition illustrée de scènes, vues, portraits, cartes et plans d’après les dessins de nos meilleurs artistes, Paris, undatiert, S. 145. ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7799. Die nicht-illustrierte Erstausgabe von La France juive erschien 1886. Vgl. dazu Bjoern Weigel, La France Juive (Édouard Drumont, 1886), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6: Publikationen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2013, S. 215-217.

[3] Die Lithografie trägt die Signatur „NAVELLIER-MARIE. S.“, hinter der die französischen Xylografen und Kupferstecher Narcisse Navellier und Alexandre Léon Marie standen. Das Duo produzierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unzählige Stiche für Publikationen unterschiedlichster Art. Ob Navellier und Marie den hier vorliegenden Stich im Auftrag Drumonts für dessen Werk La France juive anfertigten, oder ob er bereits früher in einem anderen Kontext entstanden war, ist bislang nicht bekannt. Zudem ist zu vermuten, dass der Stich auf Grundlage einer Zeichnung eines anderen, bis dato unbekannten Künstlers erstellt wurde.

[4] Vgl. Drumont, La France juive, S. 147-152. Siehe dazu auch: Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 196.
[5] Dem Mediävisten Johannes Heil zufolge war dieser Mythos „für die Ausbildung des Verschwörungsnarrativs von eminenter Bedeutung“. Johannes Heil, „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006, S. 283.
[6] Vgl. František Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987.
[7] Für einen Überblick siehe exemplarisch: Anti-Defamation League, Coronavirus Crisis Elevates Antisemitic, Racist Tropes, online veröffentlicht am 17. März 2020, https://www.adl.org/blog/coronavirus-crisis-elevates-antisemitic-racist-tropes und Community Security Trust, Coronavirus and the Plague of Antisemitism. Research Briefing, online veröffentlicht am 8. April 2020, https://cst.org.uk/data/file/d/9/Coronavirus%20and%20the%20plague%20of%20antisemitism.1586276450.pdf [beide abgerufen am 16.06.2020].
[8] Telegram-Account von Attila Hildmann, Post vom 9. Mai 2020 [abgerufen am 04.06.2020].
[9] Vgl. Sebastian Leber, Attila Hildmann gibt Juden die Schuld – und verteidigt Hitler, in: Der Tagesspiegel, online veröffentlicht am 19. Juni 2020, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/antisemitismus-im-netz-attila-hildmann-gibt-juden-die-schuld-und-verteidigt-hitler/25930880.html [abgerufen am 19.06.2020].