Objekt des Semesters – Wintersemester 2021/22​

Der Ritualmordvorwurf von Trient (1475) und seine Folgen

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler

Im Jahr 1989 erklärte der Vatikan, „daß es nie einen jüdischen Ritualmord gegeben hat“.[1] Dass diese Selbstverständlichkeit noch Ende des 20. Jahrhunderts thematisiert werden musste, zeigt die Langlebigkeit und folgenschwere Bedeutung, die der absurde Vorwurf angeblicher ritueller Morde an christlichen Kindern für die jüdische Gemeinschaft hatte und hat.
Die erste mittelalterliche Ritualmordlegende tauchte 1144 im englischen Norwich auf und breitete sich von dort nach Westeuropa, in den deutschsprachigen Raum, nach Oberitalien,[2] ab dem 16. Jahrhundert auch nach Polen und vom 19. Jahrhundert an ins Osmanische Reich aus. Die Ritualmordbeschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung führten regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen und waren häufig von materiellen Interessen geleitet.[3]
Die abstruse Anschuldigung beinhaltet im Kern den Vorwurf, Jüdinnen und Juden würden – bevorzugt zur Osterzeit – ein christliches Kind (meist einen Knaben) entführen, an ihm qualvoll die Passion Jesu wiederholen, um die christliche Religion zu verhöhnen,[4] und es schließlich töten. Das dabei gewonnene Blut benötigten sie angeblich für religiöse und medizinische Zwecke. Der Ritualmordvorwurf stellt eine äußerst wirkmächtige judenfeindliche Verschwörungsfantasie dar: Jüdinnen und Juden werden als unmenschliche, gefährliche, geradezu dämonische Mörder und Feinde der Christenheit konstruiert. Die Opfer der angeblichen Ritualmorde wurden derweil häufig zu Märtyrern stilisiert. Obwohl führende Vertreter der Kirche die Ritualmordvorwürfe immer wieder verurteilten, entwickelten sich viele Orte zu Wallfahrtsstätten.[5]
Am Ostersonntag des Jahres 1475 fand eine jüdische Familie in Trient im Keller ihres Hauses die Leiche des zweijährigen Simon, der am Gründonnerstag verschwunden war, und informierten den örtlichen Bischof Johannes Hinderbach.[6] Dieser ließ die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinschaft verhaften und vor Gericht stellen. Nach unter Folter erzwungenen „Geständnissen“ wurden die Angeklagten hingerichtet und ihr Besitz eingezogen.[7]
„Das Martyrium des heiligen Simon von Trient“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7684

Das unsignierte Gemälde (Öl auf Holz, 46 x 47 cm) des angeblichen Ritualmords von Trient zeigt eine Gruppe von neun Männern und einer Frau, die einen blondgelockten, nackten Knaben massakrieren. Vier bärtige Männer mit finsteren Mienen halten den weinenden, auf einem Tisch knienden Jungen fest, während ihm einer von ihnen ein Messer in den Hals stößt und ein anderer seine Halsschlagader abzudrücken scheint. Eine am unteren Bildrand kniende Figur fängt das aus der Wunde strömende Blut in einer Schale auf. Am linken Bildrand steht eine Frau, die mit einer Kerze für gedämpfte Beleuchtung sorgt, während hinter ihr ein bärtiger Mann mit fanatischem Gesichtsausdruck aus einem Buch vorzulesen scheint. Im Hintergrund hält eine Figur an einer leicht geöffneten Tür Wache, was den konspirativen Charakter der Szene zusätzlich verstärkt.

Der Ursprung des Gemäldes ist nach derzeitigem Kenntnisstand im norditalienischen oder süddeutschen Raum Mitte des 16. Jahrhunderts zu verorten: Auf einer Auktion in Wien im Jahr 1929 wurde es unter der Beschreibung „Alpenlandische Schule. Mitte des 16. Jahrhunderts“ angepriesen.[8] Im Auktionskatalog findet sich auch die erstmalige Erwähnung des Titels „Das Martyrium des heiligen Simon von Trient“. Acht Jahre zuvor war das Gemälde noch unter der Bezeichnung „Süddeutsch, um 1550. Darstellung eines Ritualmordes“ versteigert worden.[9] Damit ist es das älteste Objekt innerhalb der Sammlung Langerman. Für die Vermutung, dass sich das Gemälde tatsächlich auf den angeblichen Ritualmord von Trient bezieht, spricht die Bildkomposition, die dem berühmten Holzschnitt in der Schedelschen Weltchronik von 1493 nachempfunden zu sein scheint.[10] Während die Peinigung Simons dort allerdings sehr viel stärker an die Kreuzigung Jesu erinnert und die Protagonisten durch den „gelben Ring“ eindeutig als „Juden“ markiert sind, erfolgt die antijüdische Attribuierung in dem Ölgemälde anhand des an eine Schächtung erinnernden Akts.
Die Ritualmordbeschuldigung von Trient 1475 ist wegen des darauffolgenden Inquisitionsprozesses von besonderer Bedeutung für die Geschichte des Antisemitismus.[11] Bischof Hinderbach intendierte damit nämlich keine Untersuchung von Schuld oder Unschuld der Trienter Jüdinnen und Juden am Tod des kleinen Simon, sondern wollte von den Verhafteten – auch durch Folter – „Geständnisse“ erzwingen, die u. a. die Verwendung von christlichem Blut als für die jüdische Ritualpraxis erforderlich belegten. Der damit gelieferte „historische Beweis“[12] eines Ritualmords fand in ganz Europa durch Abschriften der Verhörprotokolle, Gedichte, Bücher und Erzählungen weite Verbreitung und diente als Präzedenzfall für spätere Ritualmordprozesse. Nicht zuletzt die zahlreichen Bilder und Holzschnitte vom angeblichen Ritualmord an Simon von Trient zeugen von seinem Bekanntheitsgrad. Gleichzeitig inszenierte Bischof Hinderbach einen Märtyrerkult um Simon, dem erst 1965 durch ein päpstliches Dekret ein Ende bereitet wurde.[13]
Auch im modernen Antisemitismus hat sich der Ritualmordvorwurf – in leicht abgewandelter Form – erhalten. Die Behauptung, das Blut der Getöteten würde für rituelle Zwecke verwendet, wurde ergänzt um die Beschuldigungen der Blutschande, des Schächtmords und der sexuellen Perversion.[14] Zudem erwies sich der Ritualmordvorwurf, wie beinahe alle antisemitischen Stereotype, als äußerst anpassungs- und anschlussfähig: In islamisch geprägten Ländern wurde er beispielsweise wiederholt im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt erhoben, um den israelischen Staat sowie „die Juden“ im Allgemeinen zu
dämonisieren,[15]
während Anhänger der rechtsextremen QAnon-Bewegung von einem internationalen Geheimbund fantasieren, der Kinder entführe, foltere und aus ihrem Blut das „Verjüngungsmittel“ Adrenochrom gewönne.
[1] Zitiert nach: Rainer Erb, Die Ritualmordlegende: Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 11-20, hier S. 19.
[2] Zu Auftauchen und Verbreitung der Ritualmordlegende bis 1475 vgl. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996, S. 33-40.
[3] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 13.
[4] Vgl. dazu Treue, Der Trienter Judenprozeß, S. 30.
[5] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 12 f.; Rainer Erb, Ritualmordbeschuldigung, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 293-294; Anna Esposito, Das Stereotyp des Ritualmordes in den Trienter Prozessen und die Verehrung des „Seligen“ Simone, in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 131-172, hier S. 133.
[6] Vgl. David L. Dahl, Ritualmordvorwurf in Trient (1475), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2011, S. 356-358, hier S. 356 f.
[7] Vgl. Diego Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren gegen die Juden von Trient (1475–1478), in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 85-130, hier S. 91.
[8] Auktionshaus C. J. Wawra/Auktionshaus Glückselig/Kunsthändler Richard Leitner (Hrsg.), Versteigerung der hinterlassenen Sammlung des Herrn Emil Weinberger Wien, Wien 1929, S. 115, Los 460.
[9] Albert Werner/Alfred Wawra (Hrsg.), Versteigerung einer hervorragenden Sammlung von Gemälden alter und neuer Meister sowie von Kunst und Kunstgewerbe des 14. bis 18. Jahrhunderts, Wien 1921, S. 62, Los 652.
[10] Vgl. Hartmann Schedel, Register des Buchs der Croniken und Geschichten mit Figuren und Pildnussen von Anbeginn der Welt bis auf dise unnsere Zeit, Nürnberg 1493, Blatt CCLIV. Online einsehbar unter: https://doi.org/10.11588/diglit.8305#0500
[11] Vgl. dazu ausführlich: Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren; Treue, Der Trienter Judenprozeß.
[12] Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren, S. 100.
[13] Vgl. Dahl, Ritualmordvorwurf in Trient, S. 357 f.; Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren, S. 86; Esposito, Das Stereotyp, S. 143-153.
[14] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 15.
[15] Vgl. ebd., S. 12 und 18 f., Anm. 1. Zur Ritualmordlegende in islamisch geprägten Ländern siehe exemplarisch: Malte Gebert, Fatir Ziun (Mustafa Tlas, 1983), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6: Publikationen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2013, S. 196-197.