Objekt des Semesters – Wintersemester 2022/23

Lothar Meggendorfers „drehbarer Bilderscherz“

Ein Gastbeitrag unserer ehemaligen studentischen Mitarbeiterin Jennifer Heidtke

Im Jahr 1889 wurde Lothar Meggendorfers Objektserie „L. Meggendorfer’s drehbarer Bilderscherz“ in der Beilage der humoristischen Zeitschrift Fliegende Blätter beworben. Ein verifiziertes Entstehungsdatum der vermutlich zehnteiligen Serie gibt es zwar nicht. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Verlag Wilhelm Loos München sie 1889/90 erstmals publizierte. Eine der Drehscheiben trägt den Titel „Polnische Juden“, war für 75 Pfennig käuflich zu erwerben und verhöhnt das polnische Judentum.[1]

Der Kartonumschlag zeigt zwei miteinander interagierende Männer, deren Köpfe ausgestanzt sind. Die Szene ist in eine ländliche Umgebung eingebettet. Auf den zwei im Umschlag liegenden Drehscheiben sind insgesamt 19 Köpfe mit stereotyper antisemitischer Physiognomie dargestellt. Sie ragen an den Seiten des Korpus hervor, sodass sie händisch bedient werden können. Durch das Berühren und Bewegen der beiden Scheiben werden die Rezipient*innen aktiv an der Entfaltung der antisemitischen Bildaussage beteiligt. Im Zentrum des Objekts steht die Konstruktion einer vermeintlich „jüdischen physischen Erkennbarkeit“, die mit dem Stereotyp des „Ostjuden“ verknüpft wird.
Lothar Meggendorfers „drehbarer Bilderscherz“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 10805
„Jüdische Körper“ haben keinerlei Bezug zur Realität und sind ein Produkt tradierter Stereotype, Mythen und etablierter Feindbilder. „Jüdische Gesichtsmerkmale“ werden vielfach in Kombination mit deformierten Körpern dargestellt, wodurch die Imagination einer irreversiblen körperlichen Differenz vollendet wird.[2] Das bewegliche Moment des „Bilderscherzes“ unterstützt die antisemitische Bildsprache, die sich bereits auf dem Umschlag ankündigt: Im Zentrum stehen die Köpfe der Männer. Ihre Gesichter sind verschmutzt und mit überlangen, breiten und gekrümmten Nasen, weit aufgerissenen Mündern mit wulstigen Lippen, langen Bärten und Schläfenlocken versehen. Ihre Mimik ist stark verzerrt, sodass sie hässlich, krank, böse und dämonisch wirken.
Seit dem Hochmittelalter werden Jüdinnen und Juden mit konkreten Attributen versehen.[3] Dazu zählen der „jüdische Hut“ und die „jüdische Nase“. Obwohl es vor dem 16. Jahrhundert keine Überlieferungen dafür gibt, dass Juden ihren Kopf bedeckten, setzte sich diese Vorstellung bereits im späten 11. Jahrhundert durch.[4] Ab 1170 entstanden erste Darstellungen von Juden mit markanten Nasen:

„At that time, a range of artworks […] began to feature at least one male Jewish figure drawn in stark profile, with somewhat gross features, a hostile, brutish, or ferocious expression, and a pointed, scraggly beard. […] In several of these works, the Jew in question display a distinctively hooked or beaked nose.“[5]

Im 19. Jahrhundert wurde die „jüdische Nase“ im Kontext zeitgenössischer anthropologischer Vorstellungen als „rassistisch-körperliche[s] Merkmal“[6] umgedeutet.
Meggendorfer nutzte die künstlerischen Mittel der Karikatur und arbeitete mit der vermeintlich komischen Überzeichnung des dargestellten Bildinhalts, der die Wahrheit abzubilden suggeriert. So wird das polnische Judentum mithilfe weniger Striche homogenisiert und als das absolut Böse charakterisiert. Seit dem Hochmittelalter verfestigten sich antijüdische Darstellungsweisen, die nicht zuletzt darauf abzielten, das Judentum als Verkörperung allen Bösen und Schlechten zu markieren und schlussendlich für die (christliche) Welt erkennbar zu machen.[7] Daraus resultierte das (christliche) Verlangen nach einer absoluten Abgrenzung vom Judentum und mit ihr die Konstruktion des „Anderen“, auf den all jenes projiziert werden konnte, was vom eigenen Selbst abgespalten werden musste.[8] Das Ergebnis war ein dichotomes Weltbild, in dessen Zentrum ein Deutungssystem stand, nach dem Jüdinnen und Juden als „negative Dimension“ begriffen, als ungläubig verdammt und dämonisiert wurden.[9] Sie wurden in diesem Weltbild zum „Archetypus [allen] Üblen und Verwerflichen in der Welt“.[10]
Der Begriff „Ostjude“ tauchte bereits im 19. Jahrhundert auf, wurde vor dem Ersten Weltkrieg allerdings eher selten verwendet.[11] Das Stereotyp entwickelte sich im späten 18. Jahrhundert mit der jüdischen Aufklärung und dem darauf folgenden Emanzipationsstreben der jüdischen Bevölkerung.[12] Zwischen Jüdinnen und Juden, die in den deutschen Territorien und denjenigen, die vorwiegend in Polen, Galizien, Russland und Rumänien lebten, wurde eine kulturelle Diskrepanz konstruiert, wonach das „Ostjudentum“ als homogene Masse betrachtet und als rückschrittlich abgewertet wird.[13] Ihre Sprache – Jiddisch – wurde als „Jargon und Kauderwelsch“[14] bezeichnet, vom Hochdeutschen abgegrenzt und als „Ausdruck angeblichen geistigen und moralischen Verfalls“[15] gedeutet. Ihr Gottesdienst wurde als laut und chaotisch beschrieben, dementsprechend handele es sich bei ihnen um „religiöse Fanatiker“.[16] Auch ihr Erscheinungsbild wurde homogenisiert: Alle „Ostjuden“ hätten Bärte und Schläfenlocken und würden Kaftane und Kopfbedeckungen tragen. Ein Großteil des „Ostjudentums“ lebte im 19. Jahrhundert in Armut, weshalb sie als „schmutzig, schlecht riechend, […] hässlich, körperlich degeneriert und krank“[17] abgewertet werden.
Lothar Meggendorfer verbildlichte diese diffamierenden Vorurteile: Neben der Darstellung der deformierten männlichen Körper in verschlissenen Kaftanen mit Kopfbedeckungen, Bärten und Schläfenlocken veranschaulichen die verzerrten und aufgerissenen Münder die Fremdartigkeit und Unverständlichkeit, die dem als Kauderwelsch abgewerteten Jiddischen zugesprochen wird.
Die Besonderheit des Objekts verbirgt sich im kinetischen Bildträger selbst. Einerseits verstand Lothar Meggendorfer seine Werke als bildliche Nachrichten, die aufklärerisch und vermittelnd fungieren sollten[18] – also ein pädagogisches Ziel haben. So vermittelt die Drehscheibe antisemitische Wissensbestände über das imaginierte Aussehen und Verhalten von polnischen Juden. Anderseits wird das Publikum zum Dreh- und Angelpunkt des Objekts. Denn wie ein Großteil von Lothar Meggendorfers Œuvre zeichnet sich auch der „drehbare Bilderscherz“ durch das partizipative Moment aus.[19] Ohne die aktive und händische Interaktion der Betrachter*innen kann das Objekt die antisemitische Wirkung, die ihm inhärent ist, nicht in Gänze erfüllen. Die Drehscheibe „Polnische Juden“ wird so zu einem manipulierenden Gegenstand, der seine Rezipient*innen in Kompliz*innen verwandelt.
Das partizipative Moment eröffnet sowohl für die Forschung als auch für die pädagogische Arbeit neue Dimensionen. So könnte anhand einer Analyse des kinetischen Bildträgers die Funktions- und Wirkungsweise von visuellem Antisemitismus mit Blick auf die aktive Beteiligung der Rezipient*innen untersucht werden. Darüber hinaus eignet sich das Objekt, um antisemitische Bilder, Codes und Stereotype exemplarisch zu decodieren. Antisemitische Bilder können nur dann als solche erkannt werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden Aussagen von den Betrachter*innen gelesen werden können. Anhand des Objekts könnten die Konstruktion einer vermeintlich „jüdischen physischen Erkennbarkeit“ und das Stereotyp des „Ostjuden“ antisemitismuskritisch erörtert werden.

[1] Vgl. Beiblatt der Fliegenden Blätter, Nr. 2293, Erstes Blatt, 7. Juli 1889, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/fb_bb91/0030 [abgerufen am 16.01.2023].

[2] Vgl. Julia Schäfer, Der antisemitische Stereotyp. Über die Tradition des visuellen „Judenbildes“ in der deutschsprachigen Propaganda, in: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit, online veröffentlicht am 14. September 2004, https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-antisemitische-stereotyp/ [abgerufen am 16.01.2023].

[3] Vgl. Sara Lipton, What’s in a Nose? The Origins, Development, and Influence of Medieval Anti-Jewish Caricature, in: Jonathan Adams/Cordelia Heß (Hrsg.), The Medieval Roots of Antisemitism. Continuities and Discontinuities from the Middle Ages to Present Day, New York 2018, S. 183-203, hier S. 190.

[4] Vgl. ebd.
[5] Ebd., S. 192 f.

[6] Isabel Enzenbach, Antisemitismus in der zeitgenössischen Karikatur. Das Beispiel der Netanjahu/Netta-Zeichnung in der „Süddeutschen Zeitung“, in: Visual History. Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung, online veröffentlicht am 17. Dezember 2018, https://www.visual-history.de/2018/12/17/antisemitismus-in-der-zeitgenoessischen-karikatur/ [abgerufen am 16.01.2023].

[7] Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012, S. 61.
[8] Vgl. ebd., S. 64.
[9] Vgl. ebd.
[10] Ebd.
[11] Vgl. Klaus Hödl, Ostjuden, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 260-262, hier S. 260.
[12] Vgl. ebd.
[13] Vgl. ebd., S. 260 f.
[14] Ebd., S. 261.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Vgl. Hildegard Krahé, Lothar Meggendorfers Spielwelt, München 1983, S. 38.
[19] Vgl. ebd., S. 12-14.