Objekt des Semesters

Wintersemester 2022/23

Lothar Meggendorfers „drehbarer Bilderscherz“

Ein Gastbeitrag unserer ehemaligen studentischen Mitarbeiterin Jennifer Heidtke

Im Jahr 1889 wurde Lothar Meggendorfers Objektserie „L. Meggendorfer’s drehbarer Bilderscherz“ in der Beilage der humoristischen Zeitschrift Fliegende Blätter beworben. Ein verifiziertes Entstehungsdatum der vermutlich zehnteiligen Serie gibt es zwar nicht. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass der Verlag Wilhelm Loos München sie 1889/90 erstmals publizierte. Eine der Drehscheiben trägt den Titel „Polnische Juden“, war für 75 Pfennig käuflich zu erwerben und verhöhnt das polnische Judentum.[1]

Der Kartonumschlag zeigt zwei miteinander interagierende Männer, deren Köpfe ausgestanzt sind. Die Szene ist in eine ländliche Umgebung eingebettet. Auf den zwei im Umschlag liegenden Drehscheiben sind insgesamt 19 Köpfe mit stereotyper antisemitischer Physiognomie dargestellt. Sie ragen an den Seiten des Korpus hervor, sodass sie händisch bedient werden können. Durch das Berühren und Bewegen der beiden Scheiben werden die Rezipient*innen aktiv an der Entfaltung der antisemitischen Bildaussage beteiligt. Im Zentrum des Objekts steht die Konstruktion einer vermeintlich „jüdischen physischen Erkennbarkeit“, die mit dem Stereotyp des „Ostjuden“ verknüpft wird.
Lothar Meggendorfers „drehbarer Bilderscherz“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 10805
„Jüdische Körper“ haben keinerlei Bezug zur Realität und sind ein Produkt tradierter Stereotype, Mythen und etablierter Feindbilder. „Jüdische Gesichtsmerkmale“ werden vielfach in Kombination mit deformierten Körpern dargestellt, wodurch die Imagination einer irreversiblen körperlichen Differenz vollendet wird.[2] Das bewegliche Moment des „Bilderscherzes“ unterstützt die antisemitische Bildsprache, die sich bereits auf dem Umschlag ankündigt: Im Zentrum stehen die Köpfe der Männer. Ihre Gesichter sind verschmutzt und mit überlangen, breiten und gekrümmten Nasen, weit aufgerissenen Mündern mit wulstigen Lippen, langen Bärten und Schläfenlocken versehen. Ihre Mimik ist stark verzerrt, sodass sie hässlich, krank, böse und dämonisch wirken.
Seit dem Hochmittelalter werden Jüdinnen und Juden mit konkreten Attributen versehen.[3] Dazu zählen der „jüdische Hut“ und die „jüdische Nase“. Obwohl es vor dem 16. Jahrhundert keine Überlieferungen dafür gibt, dass Juden ihren Kopf bedeckten, setzte sich diese Vorstellung bereits im späten 11. Jahrhundert durch.[4] Ab 1170 entstanden erste Darstellungen von Juden mit markanten Nasen:

„At that time, a range of artworks […] began to feature at least one male Jewish figure drawn in stark profile, with somewhat gross features, a hostile, brutish, or ferocious expression, and a pointed, scraggly beard. […] In several of these works, the Jew in question display a distinctively hooked or beaked nose.“[5]

Im 19. Jahrhundert wurde die „jüdische Nase“ im Kontext zeitgenössischer anthropologischer Vorstellungen als „rassistisch-körperliche[s] Merkmal“[6] umgedeutet.
Meggendorfer nutzte die künstlerischen Mittel der Karikatur und arbeitete mit der vermeintlich komischen Überzeichnung des dargestellten Bildinhalts, der die Wahrheit abzubilden suggeriert. So wird das polnische Judentum mithilfe weniger Striche homogenisiert und als das absolut Böse charakterisiert. Seit dem Hochmittelalter verfestigten sich antijüdische Darstellungsweisen, die nicht zuletzt darauf abzielten, das Judentum als Verkörperung allen Bösen und Schlechten zu markieren und schlussendlich für die (christliche) Welt erkennbar zu machen.[7] Daraus resultierte das (christliche) Verlangen nach einer absoluten Abgrenzung vom Judentum und mit ihr die Konstruktion des „Anderen“, auf den all jenes projiziert werden konnte, was vom eigenen Selbst abgespalten werden musste.[8] Das Ergebnis war ein dichotomes Weltbild, in dessen Zentrum ein Deutungssystem stand, nach dem Jüdinnen und Juden als „negative Dimension“ begriffen, als ungläubig verdammt und dämonisiert wurden.[9] Sie wurden in diesem Weltbild zum „Archetypus [allen] Üblen und Verwerflichen in der Welt“.[10]
Der Begriff „Ostjude“ tauchte bereits im 19. Jahrhundert auf, wurde vor dem Ersten Weltkrieg allerdings eher selten verwendet.[11] Das Stereotyp entwickelte sich im späten 18. Jahrhundert mit der jüdischen Aufklärung und dem darauf folgenden Emanzipationsstreben der jüdischen Bevölkerung.[12] Zwischen Jüdinnen und Juden, die in den deutschen Territorien und denjenigen, die vorwiegend in Polen, Galizien, Russland und Rumänien lebten, wurde eine kulturelle Diskrepanz konstruiert, wonach das „Ostjudentum“ als homogene Masse betrachtet und als rückschrittlich abgewertet wird.[13] Ihre Sprache – Jiddisch – wurde als „Jargon und Kauderwelsch“[14] bezeichnet, vom Hochdeutschen abgegrenzt und als „Ausdruck angeblichen geistigen und moralischen Verfalls“[15] gedeutet. Ihr Gottesdienst wurde als laut und chaotisch beschrieben, dementsprechend handele es sich bei ihnen um „religiöse Fanatiker“.[16] Auch ihr Erscheinungsbild wurde homogenisiert: Alle „Ostjuden“ hätten Bärte und Schläfenlocken und würden Kaftane und Kopfbedeckungen tragen. Ein Großteil des „Ostjudentums“ lebte im 19. Jahrhundert in Armut, weshalb sie als „schmutzig, schlecht riechend, […] hässlich, körperlich degeneriert und krank“[17] abgewertet werden.
Lothar Meggendorfer verbildlichte diese diffamierenden Vorurteile: Neben der Darstellung der deformierten männlichen Körper in verschlissenen Kaftanen mit Kopfbedeckungen, Bärten und Schläfenlocken veranschaulichen die verzerrten und aufgerissenen Münder die Fremdartigkeit und Unverständlichkeit, die dem als Kauderwelsch abgewerteten Jiddischen zugesprochen wird.
Die Besonderheit des Objekts verbirgt sich im kinetischen Bildträger selbst. Einerseits verstand Lothar Meggendorfer seine Werke als bildliche Nachrichten, die aufklärerisch und vermittelnd fungieren sollten[18] – also ein pädagogisches Ziel haben. So vermittelt die Drehscheibe antisemitische Wissensbestände über das imaginierte Aussehen und Verhalten von polnischen Juden. Anderseits wird das Publikum zum Dreh- und Angelpunkt des Objekts. Denn wie ein Großteil von Lothar Meggendorfers Œuvre zeichnet sich auch der „drehbare Bilderscherz“ durch das partizipative Moment aus.[19] Ohne die aktive und händische Interaktion der Betrachter*innen kann das Objekt die antisemitische Wirkung, die ihm inhärent ist, nicht in Gänze erfüllen. Die Drehscheibe „Polnische Juden“ wird so zu einem manipulierenden Gegenstand, der seine Rezipient*innen in Kompliz*innen verwandelt.
Das partizipative Moment eröffnet sowohl für die Forschung als auch für die pädagogische Arbeit neue Dimensionen. So könnte anhand einer Analyse des kinetischen Bildträgers die Funktions- und Wirkungsweise von visuellem Antisemitismus mit Blick auf die aktive Beteiligung der Rezipient*innen untersucht werden. Darüber hinaus eignet sich das Objekt, um antisemitische Bilder, Codes und Stereotype exemplarisch zu decodieren. Antisemitische Bilder können nur dann als solche erkannt werden, wenn die ihnen zugrunde liegenden Aussagen von den Betrachter*innen gelesen werden können. Anhand des Objekts könnten die Konstruktion einer vermeintlich „jüdischen physischen Erkennbarkeit“ und das Stereotyp des „Ostjuden“ antisemitismuskritisch erörtert werden.

[1] Vgl. Beiblatt der Fliegenden Blätter, Nr. 2293, Erstes Blatt, 7. Juli 1889, https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/fb_bb91/0030 [abgerufen am 16.01.2023].

[2] Vgl. Julia Schäfer, Der antisemitische Stereotyp. Über die Tradition des visuellen „Judenbildes“ in der deutschsprachigen Propaganda, in: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit, online veröffentlicht am 14. September 2004, https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/der-antisemitische-stereotyp/ [abgerufen am 16.01.2023].

[3] Vgl. Sara Lipton, What’s in a Nose? The Origins, Development, and Influence of Medieval Anti-Jewish Caricature, in: Jonathan Adams/Cordelia Heß (Hrsg.), The Medieval Roots of Antisemitism. Continuities and Discontinuities from the Middle Ages to Present Day, New York 2018, S. 183-203, hier S. 190.

[4] Vgl. ebd.
[5] Ebd., S. 192 f.

[6] Isabel Enzenbach, Antisemitismus in der zeitgenössischen Karikatur. Das Beispiel der Netanjahu/Netta-Zeichnung in der „Süddeutschen Zeitung“, in: Visual History. Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung, online veröffentlicht am 17. Dezember 2018, https://www.visual-history.de/2018/12/17/antisemitismus-in-der-zeitgenoessischen-karikatur/ [abgerufen am 16.01.2023].

[7] Vgl. Monika Schwarz-Friesel/Jehuda Reinharz, Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012, S. 61.
[8] Vgl. ebd., S. 64.
[9] Vgl. ebd.
[10] Ebd.
[11] Vgl. Klaus Hödl, Ostjuden, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 260-262, hier S. 260.
[12] Vgl. ebd.
[13] Vgl. ebd., S. 260 f.
[14] Ebd., S. 261.
[15] Ebd.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Vgl. Hildegard Krahé, Lothar Meggendorfers Spielwelt, München 1983, S. 38.
[19] Vgl. ebd., S. 12-14.

Sommersemester 2022

„Gruss aus Borkum“. Postkarten als Zeugnisse des Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler

Mit über 3500 Exemplaren stellen antisemitische Postkarten die mit Abstand größte Objektgruppe innerhalb der Sammlung Langerman dar. Ein großer Teil dieser Postkarten kann zu den sogenannten Judenspottkarten gezählt werden. Dabei handelt es sich um Bildpostkarten mit judenfeindlichem Inhalt, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern verbreitet waren und Jüdinnen und Juden lächerlich machten, diffamierten und als nicht zugehörig darstellten, indem sie ihnen eine unveränderliche körperliche wie kulturelle Andersartigkeit zuschrieben.[1] Nicht wenige der in der Sammlung Langerman vorliegenden Judenspottkarten sind dem sogenannten Bäder-Antisemitismus zuzurechnen. Dieser Begriff bezeichnet die alltägliche Feindseligkeit, mit der jüdische Gäste seit den 1870er-Jahren in diversen Kur- und Badeorten im Deutschen Reich und anderen Staaten konfrontiert waren.[2]
In der Regel fußte der Bäder-Antisemitismus weniger auf einer lokalen judenfeindlichen Tradition, sondern ging von den Gästen aus. Vielerorts unterstützten die örtlichen Kur- und Badeverwaltungen sowie die Einheimischen das antisemitische Verhalten ihrer Besucher jedoch, nicht zuletzt aus ökonomischen Interessen: Durch die Entwicklung eines Badeorts zu einem Anziehungspunkt für judenfeindliche Touristen wurde der Bäder-Antisemitismus zu einem „einträgliche[n] Geschäft“.[3]
Besonders stark von diesem Alltagsantisemitismus betroffen waren jüdische Gäste in jüngeren Bädern. Diese zogen vor dem Hintergrund des zunehmenden Tourismus verstärkt Gäste aus dem Mittelstand und dem Kleinbürgertum an, die mit einer Reise ihren sozialen Aufstieg unter Beweis stellen wollten, sich aber keine teuren Hotels in etablierten Bädern leisten konnten.[4] Viele von ihnen betrachteten Jüdinnen und Juden, die infolge ihres sozialen Aufstiegs im 19. Jahrhundert ebenfalls an der Entwicklung des Tourismus teilhatten, voller Neid und Missgunst als unliebsame Konkurrenten. Sie stigmatisierten sie als Parvenüs, die ihren gesellschaftlichen Aufstieg zu unrecht erlangt hätten und denen aufgezeigt werden sollte, dass sie nicht dazugehörten. Da das verfassungsrechtlich garantierte Freizügigkeitsrecht jedoch verhinderte, dass Jüdinnen und Juden das Betreten eines Ortes untersagt werden konnte, versuchten die Antisemiten, jüdischen Gästen ihren touristischen Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten und sie regelrecht zu vertreiben.

Ein Badeort, der sich bei diesen Bestrebungen besonders hervortat und seit den 1880er-Jahren als Hochburg des Bäder-Antisemitismus galt, war die Nordseeinsel Borkum. In einem Inselführer von 1897 wurde Borkum als „judenrein“ bezeichnet,[5] zwei Jahre später führte der Ort eine von der Allgemeinen Zeitung des Judentums publizierte Liste von Badeorten und Sommerfrischen an, die keine jüdischen Gäste wünschten.[6] Unser „Objekt des Semesters“ ist eine antisemitische Postkarte mit dem Titel „Gruss aus Borkum“ aus dem Verlag von E. Adami in Emden, die Ende Juli 1901 aus Borkum an eine gewisse Hede Trümper in Berlin gesendet wurde und zwei wesentliche Ausdrucks- und Propagierungsformen des Bäder-Antisemitismus der Kaiserzeit – judenfeindliches Liedgut und judenfeindliche Bildpostkarten – vereint.

Antisemitische Bildpostkarte „Gruss aus Borkum“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 2624
Die Bildseite zeigt den Text des „Borkum-Lieds“, das auf der Insel bereits in den 1890er-Jahren nach der Melodie des „Kaisermarsches Hipp, hipp, hurrah!“ gesungen wurde.[7] Nach einer Lobeshymne auf die Schönheit der Insel Borkum endete das Lied in dieser ersten Version mit den Zeilen: „Doch wer dir naht mit platten Füßen,/Mit Nasen krumm und Haaren kraus,/Der soll nicht deinen Strand genießen,/Der muß hinaus! der muß hinaus!/Hinaus!“ Detlev Claussen nannte das allabendliche Abspielen des Lieds eine „Borkumer Spezialattraktion“.[8] Seine Einschätzung teilten auch die Absender der Postkarte: „Dieses Lied“, so notierten sie im Anschluss an eine Schilderung der Urlaubsidylle und die Übersendung herzlichster Grüße, „wird jeden Abend punkt 10 Uhr hier am Strande gesungen, kein Badegast kann sonst ruhig schlafen, wenn er das Lied nicht mitgesungen hat“.
Die unmissverständliche antisemitische Aussage des „Borkum-Lieds“ wird bildlich begleitet von einer ebenso eindeutigen Karikatur: Einer Familie, die durch ihre verzerrten Physiognomien und Körper als „jüdisch“ markiert ist, wird der Zutritt zu einem Festsaal verwehrt, während die nichtjüdischen Kurgäste im Innern ausgelassen singen und feiern.
Derartige Postkarten „sind ein triviales, aber aussagekräftiges Medium, an dem sich die vielfältigen Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus zeigen lassen“ und bilden „einen wichtigen, in der Antisemitismusforschung lange Zeit kaum beachteten Indikator für die Verbreitung judenfeindlicher Vorurteile und Stereotypen“.[9] Obgleich – oder gerade weil – hinsichtlich ihrer Urheber, Herausgeber, Produktionskontexte, Auflagen, Verbreitung, Nutzergruppen, Nutzungspraktiken und Rezeption noch erhebliche Forschungsdesiderata bestehen, stellen sie besonders wertvolle Quellen für die Erforschung der Geschichte des Alltagsantisemitismus dar.
Nach dem Ersten Weltkrieg radikalisierte sich der Bäder-Antisemitismus. Nicht mehr das Fernhalten jüdischer Gäste aus einzelnen Badeorten war nun das Ziel, sondern die Vertreibung derselben aus den touristischen Zielen sollte als Blaupause für ein „judenreines“ Deutsches Reich dienen.[10] Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten veränderte sich die Situation in den Kur- und Badeorten noch einmal gravierend. Bis dahin waren die Initiativen gegen jüdische Gäste meist „von unten“ ausgegangen. Nun wurden die neu eingesetzten Gemeinde- und Kurverwaltungen sowie die örtliche NSDAP aktiv und verboten Jüdinnen und Juden die Benutzung der Bäderinfrastruktur sowie das Betreten des Strandes.[11]
[1] Vgl. dazu Peter K. Klein, Judenspottkarten, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7: Literatur, Film, Theater und Kunst, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2015, S. 228-232.
[2] Vgl. Frank Bajohr, Bäder-Antisemitismus, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 37-40, hier S. 37.

[3] Frank Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003, S. 15 f.

[4] Vgl. Frank Bajohr, Das Zinnowitzlied: Ein Symbol des Bäder-Antisemitismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Eine Online-Quellenedition, online veröffentlicht am 22. September 2016, https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-86.de.v1 [abgerufen am 01.02.2022].

[5] B. Huismann, Die Nordseeinsel Borkum einst und jetzt, Borkum 1897, S. 119. Zitiert nach: Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“, S. 12.
[6] Vgl. Michael Wildt, „Der muß hinaus! Der muß hinaus!“ Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920-1935, in: Mittelweg 36 (2001) 4, S. 3-25, hier S. 12.
[7] Vgl. Bajohr, Das Zinnowitzlied.
[8] Detlev Claussen, Vertreibung aus dem Urlaubsparadies. Über den Borkumantisemitismus, in: Helmut Gold/Georg Heuberger (Hrsg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney, Heidelberg 1999, S. 251-255, hier S. 252.
[9] Klein, Judenspottkarten, S. 229.
[10] Vgl. Bajohr, Bäder-Antisemitismus, S. 39. 
[11] Vgl. Wildt, „Der muß hinaus!“, S. 19 f. und 23.

Wintersemester 2021/22

Der Ritualmordvorwurf von Trient (1475) und seine Folgen

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler

Im Jahr 1989 erklärte der Vatikan, „daß es nie einen jüdischen Ritualmord gegeben hat“.[1] Dass diese Selbstverständlichkeit noch Ende des 20. Jahrhunderts thematisiert werden musste, zeigt die Langlebigkeit und folgenschwere Bedeutung, die der absurde Vorwurf angeblicher ritueller Morde an christlichen Kindern für die jüdische Gemeinschaft hatte und hat.
Die erste mittelalterliche Ritualmordlegende tauchte 1144 im englischen Norwich auf und breitete sich von dort nach Westeuropa, in den deutschsprachigen Raum, nach Oberitalien,[2] ab dem 16. Jahrhundert auch nach Polen und vom 19. Jahrhundert an ins Osmanische Reich aus. Die Ritualmordbeschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung führten regelmäßig zu gewalttätigen Übergriffen und waren häufig von materiellen Interessen geleitet.[3]
Die abstruse Anschuldigung beinhaltet im Kern den Vorwurf, Jüdinnen und Juden würden – bevorzugt zur Osterzeit – ein christliches Kind (meist einen Knaben) entführen, an ihm qualvoll die Passion Jesu wiederholen, um die christliche Religion zu verhöhnen,[4] und es schließlich töten. Das dabei gewonnene Blut benötigten sie angeblich für religiöse und medizinische Zwecke. Der Ritualmordvorwurf stellt eine äußerst wirkmächtige judenfeindliche Verschwörungsfantasie dar: Jüdinnen und Juden werden als unmenschliche, gefährliche, geradezu dämonische Mörder und Feinde der Christenheit konstruiert. Die Opfer der angeblichen Ritualmorde wurden derweil häufig zu Märtyrern stilisiert. Obwohl führende Vertreter der Kirche die Ritualmordvorwürfe immer wieder verurteilten, entwickelten sich viele Orte zu Wallfahrtsstätten.[5]
Am Ostersonntag des Jahres 1475 fand eine jüdische Familie in Trient im Keller ihres Hauses die Leiche des zweijährigen Simon, der am Gründonnerstag verschwunden war, und informierten den örtlichen Bischof Johannes Hinderbach.[6] Dieser ließ die Mitglieder der kleinen jüdischen Gemeinschaft verhaften und vor Gericht stellen. Nach unter Folter erzwungenen „Geständnissen“ wurden die Angeklagten hingerichtet und ihr Besitz eingezogen.[7]
„Das Martyrium des heiligen Simon von Trient“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7684

Das unsignierte Gemälde (Öl auf Holz, 46 x 47 cm) des angeblichen Ritualmords von Trient zeigt eine Gruppe von neun Männern und einer Frau, die einen blondgelockten, nackten Knaben massakrieren. Vier bärtige Männer mit finsteren Mienen halten den weinenden, auf einem Tisch knienden Jungen fest, während ihm einer von ihnen ein Messer in den Hals stößt und ein anderer seine Halsschlagader abzudrücken scheint. Eine am unteren Bildrand kniende Figur fängt das aus der Wunde strömende Blut in einer Schale auf. Am linken Bildrand steht eine Frau, die mit einer Kerze für gedämpfte Beleuchtung sorgt, während hinter ihr ein bärtiger Mann mit fanatischem Gesichtsausdruck aus einem Buch vorzulesen scheint. Im Hintergrund hält eine Figur an einer leicht geöffneten Tür Wache, was den konspirativen Charakter der Szene zusätzlich verstärkt.

Der Ursprung des Gemäldes ist nach derzeitigem Kenntnisstand im norditalienischen oder süddeutschen Raum Mitte des 16. Jahrhunderts zu verorten: Auf einer Auktion in Wien im Jahr 1929 wurde es unter der Beschreibung „Alpenlandische Schule. Mitte des 16. Jahrhunderts“ angepriesen.[8] Im Auktionskatalog findet sich auch die erstmalige Erwähnung des Titels „Das Martyrium des heiligen Simon von Trient“. Acht Jahre zuvor war das Gemälde noch unter der Bezeichnung „Süddeutsch, um 1550. Darstellung eines Ritualmordes“ versteigert worden.[9] Damit ist es das älteste Objekt innerhalb der Sammlung Langerman. Für die Vermutung, dass sich das Gemälde tatsächlich auf den angeblichen Ritualmord von Trient bezieht, spricht die Bildkomposition, die dem berühmten Holzschnitt in der Schedelschen Weltchronik von 1493 nachempfunden zu sein scheint.[10] Während die Peinigung Simons dort allerdings sehr viel stärker an die Kreuzigung Jesu erinnert und die Protagonisten durch den „gelben Ring“ eindeutig als „Juden“ markiert sind, erfolgt die antijüdische Attribuierung in dem Ölgemälde anhand des an eine Schächtung erinnernden Akts.
Die Ritualmordbeschuldigung von Trient 1475 ist wegen des darauffolgenden Inquisitionsprozesses von besonderer Bedeutung für die Geschichte des Antisemitismus.[11] Bischof Hinderbach intendierte damit nämlich keine Untersuchung von Schuld oder Unschuld der Trienter Jüdinnen und Juden am Tod des kleinen Simon, sondern wollte von den Verhafteten – auch durch Folter – „Geständnisse“ erzwingen, die u. a. die Verwendung von christlichem Blut als für die jüdische Ritualpraxis erforderlich belegten. Der damit gelieferte „historische Beweis“[12] eines Ritualmords fand in ganz Europa durch Abschriften der Verhörprotokolle, Gedichte, Bücher und Erzählungen weite Verbreitung und diente als Präzedenzfall für spätere Ritualmordprozesse. Nicht zuletzt die zahlreichen Bilder und Holzschnitte vom angeblichen Ritualmord an Simon von Trient zeugen von seinem Bekanntheitsgrad. Gleichzeitig inszenierte Bischof Hinderbach einen Märtyrerkult um Simon, dem erst 1965 durch ein päpstliches Dekret ein Ende bereitet wurde.[13]
Auch im modernen Antisemitismus hat sich der Ritualmordvorwurf – in leicht abgewandelter Form – erhalten. Die Behauptung, das Blut der Getöteten würde für rituelle Zwecke verwendet, wurde ergänzt um die Beschuldigungen der Blutschande, des Schächtmords und der sexuellen Perversion.[14] Zudem erwies sich der Ritualmordvorwurf, wie beinahe alle antisemitischen Stereotype, als äußerst anpassungs- und anschlussfähig: In islamisch geprägten Ländern wurde er beispielsweise wiederholt im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt erhoben, um den israelischen Staat sowie „die Juden“ im Allgemeinen zu
dämonisieren,[15]
während Anhänger der rechtsextremen QAnon-Bewegung von einem internationalen Geheimbund fantasieren, der Kinder entführe, foltere und aus ihrem Blut das „Verjüngungsmittel“ Adrenochrom gewönne.
[1] Zitiert nach: Rainer Erb, Die Ritualmordlegende: Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 11-20, hier S. 19.
[2] Zu Auftauchen und Verbreitung der Ritualmordlegende bis 1475 vgl. Wolfgang Treue, Der Trienter Judenprozeß. Voraussetzungen – Abläufe – Auswirkungen (1475–1588), Hannover 1996, S. 33-40.
[3] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 13.
[4] Vgl. dazu Treue, Der Trienter Judenprozeß, S. 30.
[5] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 12 f.; Rainer Erb, Ritualmordbeschuldigung, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 293-294; Anna Esposito, Das Stereotyp des Ritualmordes in den Trienter Prozessen und die Verehrung des „Seligen“ Simone, in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 131-172, hier S. 133.
[6] Vgl. David L. Dahl, Ritualmordvorwurf in Trient (1475), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2011, S. 356-358, hier S. 356 f.
[7] Vgl. Diego Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren gegen die Juden von Trient (1475–1478), in: Susanna Buttaroni/Stanisław Musiał (Hrsg.), Ritualmord. Legenden in der europäischen Geschichte, Wien 2003, S. 85-130, hier S. 91.
[8] Auktionshaus C. J. Wawra/Auktionshaus Glückselig/Kunsthändler Richard Leitner (Hrsg.), Versteigerung der hinterlassenen Sammlung des Herrn Emil Weinberger Wien, Wien 1929, S. 115, Los 460.
[9] Albert Werner/Alfred Wawra (Hrsg.), Versteigerung einer hervorragenden Sammlung von Gemälden alter und neuer Meister sowie von Kunst und Kunstgewerbe des 14. bis 18. Jahrhunderts, Wien 1921, S. 62, Los 652.
[10] Vgl. Hartmann Schedel, Register des Buchs der Croniken und Geschichten mit Figuren und Pildnussen von Anbeginn der Welt bis auf dise unnsere Zeit, Nürnberg 1493, Blatt CCLIV. Online einsehbar unter: https://doi.org/10.11588/diglit.8305#0500
[11] Vgl. dazu ausführlich: Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren; Treue, Der Trienter Judenprozeß.
[12] Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren, S. 100.
[13] Vgl. Dahl, Ritualmordvorwurf in Trient, S. 357 f.; Quaglioni, Das Inquisitionsverfahren, S. 86; Esposito, Das Stereotyp, S. 143-153.
[14] Vgl. Erb, Die Ritualmordlegende, S. 15.
[15] Vgl. ebd., S. 12 und 18 f., Anm. 1. Zur Ritualmordlegende in islamisch geprägten Ländern siehe exemplarisch: Malte Gebert, Fatir Ziun (Mustafa Tlas, 1983), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6: Publikationen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2013, S. 196-197.

Sommersemester 2021

Der Mythos des „Ewigen Juden“ und seine Repräsentation in Kunst und Kultur

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler/Philippe Pierret

Die massive, über einen halben Meter hohe Bronzeskulptur des belgischen Bildhauers Alfons De Wispelaere aus dem Jahr 1919 stellt einen bärtigen, mit wallendem Umhang und Sandalen bekleideten Mann dar, der auf einem Felsen steht. Er hat Schläfenlocken, trägt eine Kopfbedeckung, die an eine Kippa erinnert und stützt sich mit der rechten Hand auf einen Wanderstab. Auffällig ist die Physiognomie des Dargestellten: Sie zeichnet sich durch eine ausgeprägte, hakenförmige Nase und verzerrte Gesichtszüge aus, die dem Mann einen gequälten und gleichzeitig hämischen, verschlagenen Ausdruck verleihen. Der wallende Charakter des Umhangs, die Barfüßigkeit und der Wanderstab sprechen dafür, dass es sich bei dieser Skulptur um eine plastische Repräsentation der mythischen Figur des „Ewigen Juden“ handelt,[1] die durch die stigmatisierende Attribuierung mit einer vermeintlich „jüdischen Physiognomie“ deutliche Merkmale der antisemitischen Darstellungstradition aufweist.[2]
Der 1879 in Brügge geborene Alfons De Wispelaere entstammte einer Familie von Bildhauern. Spezialisiert auf christlich-religiöse Kunst, fertigten sie u. a. Skulpturen, Statuen, Dekorationen und Möbel für zahlreiche Kirchen, Kathedralen und Kapellen in Belgien sowie im europäischen Ausland und den USA an. Neben kirchlichen Aufträgen waren die De Wispelaeres auch auf dem Gebiet der profanen Inneneinrichtung tätig. Über die konkreten Produktionsbedingungen, den Verwendungszweck und die Provenienzen unseres „Objekt des Semesters“ ist derweil bis dato nichts bekannt. Alfons De Wispelaere starb im Jahr 1957 in seiner Geburtsstadt Brügge.[3]
Bronzeskulptur der mythischen Figur des „Ewigen Juden“
ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 8910

Die Legende vom „Ewigen Juden“ (mitunter auch: „Wandernden Juden“), der angeblich Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung nicht vor seinem Haus habe rasten lassen und deshalb zu ewiger Wanderschaft verdammt sei, geht zurück bis ins frühe Mittelalter. Mit der nur achtseitigen Schrift Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus, die 1602 anonym im Umfeld der protestantischen Reformationsbewegung erschien, wurde die zuvor namenlose Gestalt als jüdischer Schuster mit dem Namen Ahasverus personifiziert.[4] Die wirkmächtige Broschüre wurde noch im 17. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, sodass sie eine weite Verbreitung in Europa erfuhr.[5] 

Gleichzeitig entwickelte sich eine mündliche Erzähltradition, die von Aufenthalten des „Ewigen Juden“ an verschiedenen Orten berichtete. Die angebliche Mitschuld Ahasvers am Leiden und Tod Christi trat dabei immer mehr in den Hintergrund, vielmehr wurde sein rastloses Wandern zum „Paradigma für die Schicksale seines Volkes“.[6] 
Hier liegt die Bedeutung der Ahasver-Legende für die Entwicklung der Judenfeindschaft. Die Figur des „Ewigen Juden“ versinnbildlichte zunehmend keine einzelne Person mehr, sondern das heimatlose jüdische Volk in der Diaspora.[7] Jüdinnen und Juden wurden kollektiv als ewige Fremde, als Kosmopoliten oder als „Nation innerhalb der Nation“ gesehen, die – ungeachtet ihrer Staatsbürgerschaft, ihres gesellschaftlichen Aufstiegs und aller patriotischen Bekenntnisse – zu keiner Nation gehören konnten und denen eine supranationale Loyalität gegenüber ihren Glaubensbrüdern und -schwestern in anderen Ländern unterstellt wurde.[8] Dabei wurde und wird das Attribut „ewig“ aus antisemitischer Perspektive als Hinweis auf eine zeitlose Unwandelbarkeit und Verstocktheit „der Juden“ gegenüber der christlichen Heilslehre[9] sowie als „Beleg“ für vermeintlich unveränderliche „rassische“ und charakterliche Eigenschaften begriffen. Analog zu anderen antisemitischen Mythen und Stereotypen passte sich auch die Figur des „Ewigen Juden“ vom Mittelalter bis heute an unterschiedlichste kulturelle und historische Kontexte an.
Den Nationalsozialisten diente der „Ewige Jude“ – weitgehend losgelöst von der Ahasver-Legende – als „Inkarnation des Jüdischen“, als ein Feindbild, mit dem man Jüdinnen und Juden kollektiv stigmatisierte.[10] Das Werbeplakat zur NS-Ausstellung „Der ewige Jude“, die im November 1937 in München eröffnet wurde, zeigte eine sinistre Gestalt mit einer Geißel, einer Weltkarte des Bolschewismus sowie Münzen und ist bis heute ein prominentes Beispiel antisemitischer Bildsprache. Die Ausstellung wie auch der gleichnamige Propagandafilm von 1940, der durch seine Vergleiche von Jüdinnen und Juden mit Ratten sowie brutale Schächtszenen an die niedersten Instinkte der Zuschauer*innen appellierte,[11] sollten anhand der Konstruktion des nach der Weltherrschaft strebenden, unsteten und unproduktiven „Ewigen Juden“ ein abstoßendes Gegenbild zum „werteschaffenden Arier“ erzeugen und bereiteten damit den Weg für die Ermordung der europäischen Juden.
Die Figur des zu ewiger Wanderschaft verdammten Ahasver, die nicht durchgängig antisemitisch interpretiert wurde,[12] hat über die Jahrhunderte zahlreiche – auch jüdische – Schriftsteller, Philosophen und Publizisten, von Johann Wolfgang von Goethe über Arthur Schopenhauer, Ludwig Börne bis hin zu Egon Erwin Kisch, inspiriert.[13] Gleiches gilt für die Malerei: Das Repertoire reicht von der antisemitischen Darstellung des „Ewigen Juden“ in Wilhelm Kaulbachs monumentalem Gemälde „Die Zerstörung Jerusalems durch Titus“ von 1846 bis zu den berühmten Zeichnungen Marc Chagalls.[14]
[1] Für einen Überblick über künstlerische Darstellungen der Figur des „Ewigen Juden“ siehe: Richard I. Cohen, The „Wandering Jew“ from Medieval Legend to Modern Metaphor, in: Barbara Kirshenblatt-Gimblett/Jonathan Karp (Hrsg.), The Art of Being Jewish in Modern Times, Philadelphia 2008, S. 147-175.
[2] Zur Geschichte antisemitischer Darstellungsformen und zum Konstrukt der „jüdischen Physiognomie“ siehe: Peter K. Klein, „Jud, dir kuckt der Spitzbub aus dem Gesicht!“ Traditionen antisemitischer Bildstereotypen und die Physiognomie des ‚Juden‘ als Konstrukt, in: Helmut Gold/Georg Heuberger (Hrsg.), Abgestempelt. Judenfeindliche Postkarten. Auf der Grundlage der Sammlung Wolfgang Haney, Heidelberg 1999, S. 43-78.

[3] Vgl. den Eintrag De Wispelaere – een Brugs kunstenaarsgeslacht auf dem Blog des Brügger Auktionshauses Rob Michiels Auctions, o. D., https://www.rm-auctions.com/nl/blog/de-wispelaere—een-brugs-kunstenaarsgeslacht- [abgerufen am 06.05.2021]. 

[4] Vgl. Mona Körte, Ahasverus, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2010, S. 3-6, hier S. 3.
[5] Vgl. Wolfgang Benz, „Der ewige Jude“. Metaphern und Methoden nationalsozialistischer Propaganda, Berlin 2010, S. 9.
[6] Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 249.
[7] Vgl. Benz, „Der ewige Jude“, S. 10.

[8] Vgl. dazu exemplarisch: Dominique Schnapper, Le Juif errant, in: Yves Lequin (Hrsg.), Histoire des étrangers et de l’immigration en France, Paris 1992, S. 363-377; Michael Woolf, The Wandering Jew, in: Frontiers. The Interdisciplinary Journal of Study Abroad 30 (2018) 1, S. 20-32.

[9] Vgl. Körte, Ahasverus, S. 4.
[10] Benz, „Der ewige Jude“, S. 12 f.
[11] Zum NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“ siehe: Benz, „Der ewige Jude“, S. 139-157.
[12] Siehe dazu exemplarisch: Galit Hasan-Rokem, Ahasver, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Bd. 1: A-Cl, Stuttgart 2011, S. 9-13.
[13] Vgl. dazu: Mona Körte, Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literarischen Phantastik, Frankfurt a. M. 2000.
[14] Vgl. Cohen, The „Wandering Jew“, hier insbesondere S. 153-174.

Wintersemester 2020/21

Von der mittelalterlichen Brunnenvergiftung zu COVID-19. Antisemitische Verschwörungsfantasien in Zeiten von Epidemien

Angelika Königseder/Carl-Eric Linsler/Juliane Wetzel

Fast 20 Prozent der Britinnen und Briten stimmten im Mai 2020 – auf dem vorläufigen Höhepunkt der COVID-19-Pandemie in Europa – in einer repräsentativen Umfrage von klinischen Psychologen der University of Oxford der Aussage „Jews have created the virus to collapse the economy for financial gain“ teilweise bis voll und ganz zu.[1]

Sie offenbarten damit, wie wandlungs- und anpassungsfähig antisemitische Stereotype über die Jahrhunderte hinweg sind. Der Topos von Jüdinnen und Juden als vermeintlichen Krankheitsverursachern und gleichzeitigen Profiteuren ist seit dem 14. Jahrhundert ein stets wiederkehrendes Element antijüdischer Zuschreibungen. Epidemien wie Lepra, Pest, Cholera, Typhus, Schweinegrippe, Ebola, Vogelgrippe, SARS und COVID-19 boten und bieten eine willkommene Plattform für antisemitische Verschwörungsfantasien, die Juden als Unruhestifter, Krisenauslöser und -gewinnler sowie Verursacher allen Übels imaginieren.

Als zentrales Motiv, das seit dem Mittelalter über die Jahrhunderte tradiert und insbesondere in Krisenzeiten immer wieder reaktiviert wurde und wird, gilt die Anschuldigung, Juden würden Brunnen vergiften. Unser „Objekt des Semesters“ zeigt eine visuelle Repräsentation dieses Motivs, die Ende des 19. Jahrhunderts in der illustrierten Ausgabe des beinahe tausend Seiten umfassenden Hauptwerks des seinerzeit einflussreichsten französischen Antisemiten Édouard Drumont, La France juive, erschien (Abbildung 1).[2]
Abb. 1: Lithografie einer angeblichen Brunnenvergiftung
Aus: Édouard Drumont, La France juive, siehe Anm. 2

Vor dem Hintergrund einer dörflichen Szenerie sind drei um einen Brunnen gruppierte Figuren zu sehen. Die linke männliche Person ist durch ihre bandagierten Gliedmaßen als Leprakranker markiert. Die mittlere Figur, die wegen der Fußlappen wohl ebenfalls als leprakrank inszeniert werden soll, gießt eine Flüssigkeit aus einem Krug, der einem zur rituellen jüdischen Waschung verwendeten Aquamanile gleicht, in den Brunnen. Mit deutlichem Abstand zu den Leprakranken dominiert das Geschehen ein Mann in dunkler Kleidung, der als Strippenzieher über die geheime Aktion zu wachen scheint. Diese Figur weist einige zentrale Elemente der antisemitischen Darstellungstradition auf. Das typische Konstrukt einer „jüdischen Physiognomie“ manifestiert sich in seiner langen, leicht gekrümmten Nase, optisch verstärkt durch die heruntergezogenen Mundwinkel und den Vollbart, sowie einem Gesichtsausdruck, der als verschlagen wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zu den beiden anderen Figuren, die eine typisch mittelalterliche Gürteltasche tragen, ist „der Jude“ mit einem Geldsack attribuiert, der auf das klassische judenfeindliche Stereotyp des angeblichen jüdischen Reichtums und der Geldgier anspielt.

Die Entstehungs-, Herkunfts- und Produktionsumstände der Lithografie sind weitgehend ungeklärt.[3] Kein Zweifel besteht hingegen an Drumonts Interpretation, die er in der Bildlegende unmissverständlich formulierte: „Les Juifs avaient organisé une conspiration de lépreux pour empoisonner les fontaines.“ [Die Juden hatten eine Verschwörung Leprakranker organisiert, um die Brunnen zu vergiften.]. Drumont rekurrierte damit auf einen antijüdischen Mythos, der 1321 seinen Anfang in Südfrankreich nahm: Juden hätten im Verborgenen Leprakranke instrumentalisiert und dafür bezahlt, Quellen und Brunnen zu vergiften, um sich an den Christen zu rächen, sie mit der Krankheit zu infizieren und ihre Zahl zu dezimieren.[4] Diese Vorstellung erwies sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten als äußerst hartnäckig und anpassungsfähig,[5] wurde während verschiedener Epidemien reaktiviert und diente – wie 1348/49 im Zuge der großen Pestepidemie in Europa – als Vorwand für massive gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung.[6]
Bis heute ist antisemitisches Verschwörungsdenken weltweit verbreitet und bricht sich seit Beginn der COVID-19-Pandemie in unzähligen Blogs, Imageboards und in den sozialen Medien – oftmals in Form von Memes, Karikaturen und Fotomontagen – erneut Bahn.[7] Besonders häufig findet sich dabei das antisemitische Meme des „Happy Merchant“, das seinen Ursprung in der rechtsextremen US-amerikanischen „White Supremacist“-Bewegung der 2000er-Jahre hat. Es taucht im Internet in unzähligen Abwandlungen vorwiegend auf den Plattformen 4chan, 8kun, Gab, Telegram und Reddit auf und bedient Verschwörungsfantasien vom christlichen Antijudaismus über rassistische Formen bis hin zu Holocaustleugnung und israelbezogenem Antisemitismus.

Die Stürmer-ähnliche Karikatur zeigt eine Fratze mit einer überzeichneten Nase, einem ungepflegten Vollbart, mit Kippa, sich hinterlistig ins Fäustchen lachend und die Hände reibend ob des zu erwartenden finanziellen Gewinns (siehe hier). Attribuiert mit einer Spritze und einem doppeldeutigen Warnschild stellt sie – wie seinerzeit der angeblich „Brunnen vergiftende Jude“ – ein einfaches Mittel dar, um „die Juden“ zum Sündenbock für die globale Krise in Folge der COVID-19-Pandemie zu deklarieren und eine vermeintlich simple Erklärung für komplexe, schwer zu verstehende Sachverhalte zu liefern: „Die Juden“ würden das Virus verbreiten, um von der Krise wie vom zu entwickelnden Impfstoff zu profitieren.

Einmal mehr wird hier deutlich, wie sich antisemitische Stereotype und Verschwörungsideen von Juden den Zeitläuften in immer neuen Varianten anpassen können. Dass dabei auch der alte Mythos der Brunnenvergiftung nicht nur strukturell, sondern beinahe wortwörtlich reaktiviert werden kann, zeigt eine Äußerung des Kochbuchautors Attila Hildmann aus dem Mai 2020. Der selbsternannte Aktivist in der Szene der COVID-19-Verschwörungsfantasten, der sich gern als Galionsfigur der „Hygiene-Demos“ gegen die Schutzmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geriert, behauptete in einem Post seines Telegram-Accounts, Beruhigungsmittel seien ins Trinkwasser gemischt worden und er habe „seit 2 Tagen EXTREME Müdigkeitsanfälle“.[8] Wie eng solche kruden Fantasien mit antijüdischen Stereotypen verknüpft sind, zeigte sich nur wenige Wochen später, als Hildmann wegen hetzerischer antisemitischer Äußerungen im Internet auffiel.[9]

[1] Daniel Freeman et al., Coronavirus Conspiracy Beliefs, Mistrust, and Compliance with Government Guidelines in England, in: Psychological Medicine, online veröffentlicht am 21. Mai 2020, https://doi.org/10.1017/S0033291720001890 [abgerufen am 16.06.2020], S. 6.

[2] Édouard Drumont, La France juive. Essai d’histoire contemporaine. Édition illustrée de scènes, vues, portraits, cartes et plans d’après les dessins de nos meilleurs artistes, Paris, undatiert, S. 145. ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7799. Die nicht-illustrierte Erstausgabe von La France juive erschien 1886. Vgl. dazu Bjoern Weigel, La France Juive (Édouard Drumont, 1886), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6: Publikationen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2013, S. 215-217.

[3] Die Lithografie trägt die Signatur „NAVELLIER-MARIE. S.“, hinter der die französischen Xylografen und Kupferstecher Narcisse Navellier und Alexandre Léon Marie standen. Das Duo produzierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unzählige Stiche für Publikationen unterschiedlichster Art. Ob Navellier und Marie den hier vorliegenden Stich im Auftrag Drumonts für dessen Werk La France juive anfertigten, oder ob er bereits früher in einem anderen Kontext entstanden war, ist bislang nicht bekannt. Zudem ist zu vermuten, dass der Stich auf Grundlage einer Zeichnung eines anderen, bis dato unbekannten Künstlers erstellt wurde.

[4] Vgl. Drumont, La France juive, S. 147-152. Siehe dazu auch: Stefan Rohrbacher/Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 196.
[5] Dem Mediävisten Johannes Heil zufolge war dieser Mythos „für die Ausbildung des Verschwörungsnarrativs von eminenter Bedeutung“. Johannes Heil, „Gottesfeinde“ – „Menschenfeinde“. Die Vorstellung von jüdischer Weltverschwörung (13. bis 16. Jahrhundert), Essen 2006, S. 283.
[6] Vgl. František Graus, Pest – Geißler – Judenmorde. Das 14. Jahrhundert als Krisenzeit, Göttingen 1987.
[7] Für einen Überblick siehe exemplarisch: Anti-Defamation League, Coronavirus Crisis Elevates Antisemitic, Racist Tropes, online veröffentlicht am 17. März 2020, https://www.adl.org/blog/coronavirus-crisis-elevates-antisemitic-racist-tropes und Community Security Trust, Coronavirus and the Plague of Antisemitism. Research Briefing, online veröffentlicht am 8. April 2020, https://cst.org.uk/data/file/d/9/Coronavirus%20and%20the%20plague%20of%20antisemitism.1586276450.pdf [beide abgerufen am 16.06.2020].
[8] Telegram-Account von Attila Hildmann, Post vom 9. Mai 2020 [abgerufen am 04.06.2020].
[9] Vgl. Sebastian Leber, Attila Hildmann gibt Juden die Schuld – und verteidigt Hitler, in: Der Tagesspiegel, online veröffentlicht am 19. Juni 2020, https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/antisemitismus-im-netz-attila-hildmann-gibt-juden-die-schuld-und-verteidigt-hitler/25930880.html [abgerufen am 19.06.2020].