Objekt des Semesters
Sommersemester 2022
„Gruss aus Borkum“. Postkarten als Zeugnisse des Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert
Mit über 3500 Exemplaren stellen antisemitische Postkarten die mit Abstand größte Objektgruppe innerhalb der Sammlung Langerman dar. Ein großer Teil dieser Postkarten kann zu den sogenannten Judenspottkarten gezählt werden. Dabei handelt es sich um Bildpostkarten mit judenfeindlichem Inhalt, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Deutschland, aber auch in vielen anderen Ländern verbreitet waren und Jüdinnen und Juden lächerlich machten, diffamierten und als nicht zugehörig darstellten, indem sie ihnen eine unveränderliche körperliche wie kulturelle Andersartigkeit zuschrieben.[1] Nicht wenige der in der Sammlung Langerman vorliegenden Judenspottkarten sind dem sogenannten Bäder-Antisemitismus zuzurechnen. Dieser Begriff bezeichnet die alltägliche Feindseligkeit, mit der jüdische Gäste seit den 1870er-Jahren in diversen Kur- und Badeorten im Deutschen Reich und anderen Staaten konfrontiert waren.[2]
Ein Badeort, der sich bei diesen Bestrebungen besonders hervortat und seit den 1880er-Jahren als Hochburg des Bäder-Antisemitismus galt, war die Nordseeinsel Borkum. In einem Inselführer von 1897 wurde Borkum als „judenrein“ bezeichnet,[5] zwei Jahre später führte der Ort eine von der Allgemeinen Zeitung des Judentums publizierte Liste von Badeorten und Sommerfrischen an, die keine jüdischen Gäste wünschten.[6] Unser „Objekt des Semesters“ ist eine antisemitische Postkarte mit dem Titel „Gruss aus Borkum“ aus dem Verlag von E. Adami in Emden, die Ende Juli 1901 aus Borkum an eine gewisse Hede Trümper in Berlin gesendet wurde und zwei wesentliche Ausdrucks- und Propagierungsformen des Bäder-Antisemitismus der Kaiserzeit – judenfeindliches Liedgut und judenfeindliche Bildpostkarten – vereint.

ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 2624
[3] Frank Bajohr, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2003, S. 15 f.
[4] Vgl. Frank Bajohr, Das Zinnowitzlied: Ein Symbol des Bäder-Antisemitismus, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Eine Online-Quellenedition, online veröffentlicht am 22. September 2016, https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-86.de.v1 [abgerufen am 01.02.2022].
Wintersemester 2021/22
Der Ritualmordvorwurf von Trient (1475) und seine Folgen

ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7684
Das unsignierte Gemälde (Öl auf Holz, 46 x 47 cm) des angeblichen Ritualmords von Trient zeigt eine Gruppe von neun Männern und einer Frau, die einen blondgelockten, nackten Knaben massakrieren. Vier bärtige Männer mit finsteren Mienen halten den weinenden, auf einem Tisch knienden Jungen fest, während ihm einer von ihnen ein Messer in den Hals stößt und ein anderer seine Halsschlagader abzudrücken scheint. Eine am unteren Bildrand kniende Figur fängt das aus der Wunde strömende Blut in einer Schale auf. Am linken Bildrand steht eine Frau, die mit einer Kerze für gedämpfte Beleuchtung sorgt, während hinter ihr ein bärtiger Mann mit fanatischem Gesichtsausdruck aus einem Buch vorzulesen scheint. Im Hintergrund hält eine Figur an einer leicht geöffneten Tür Wache, was den konspirativen Charakter der Szene zusätzlich verstärkt.
dämonisieren,[15] während Anhänger der rechtsextremen QAnon-Bewegung von einem internationalen Geheimbund fantasieren, der Kinder entführe, foltere und aus ihrem Blut das „Verjüngungsmittel“ Adrenochrom gewönne.
Sommersemester 2021
Der Mythos des „Ewigen Juden“ und seine Repräsentation in Kunst und Kultur

ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 8910
Die Legende vom „Ewigen Juden“ (mitunter auch: „Wandernden Juden“), der angeblich Christus auf seinem Weg zur Kreuzigung nicht vor seinem Haus habe rasten lassen und deshalb zu ewiger Wanderschaft verdammt sei, geht zurück bis ins frühe Mittelalter. Mit der nur achtseitigen Schrift Kurtze Beschreibung und Erzehlung von einem Juden mit Namen Ahasverus, die 1602 anonym im Umfeld der protestantischen Reformationsbewegung erschien, wurde die zuvor namenlose Gestalt als jüdischer Schuster mit dem Namen Ahasverus personifiziert.[4] Die wirkmächtige Broschüre wurde noch im 17. Jahrhundert mehrfach neu aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt, sodass sie eine weite Verbreitung in Europa erfuhr.[5]
[3] Vgl. den Eintrag De Wispelaere – een Brugs kunstenaarsgeslacht auf dem Blog des Brügger Auktionshauses Rob Michiels Auctions, o. D., https://www.rm-auctions.com/nl/blog/de-wispelaere—een-brugs-kunstenaarsgeslacht- [abgerufen am 06.05.2021].
[8] Vgl. dazu exemplarisch: Dominique Schnapper, Le Juif errant, in: Yves Lequin (Hrsg.), Histoire des étrangers et de l’immigration en France, Paris 1992, S. 363-377; Michael Woolf, The Wandering Jew, in: Frontiers. The Interdisciplinary Journal of Study Abroad 30 (2018) 1, S. 20-32.
Wintersemester 2020/21
Von der mittelalterlichen Brunnenvergiftung zu COVID-19. Antisemitische Verschwörungsfantasien in Zeiten von Epidemien
Fast 20 Prozent der Britinnen und Briten stimmten im Mai 2020 – auf dem vorläufigen Höhepunkt der COVID-19-Pandemie in Europa – in einer repräsentativen Umfrage von klinischen Psychologen der University of Oxford der Aussage „Jews have created the virus to collapse the economy for financial gain“ teilweise bis voll und ganz zu.[1]
Sie offenbarten damit, wie wandlungs- und anpassungsfähig antisemitische Stereotype über die Jahrhunderte hinweg sind. Der Topos von Jüdinnen und Juden als vermeintlichen Krankheitsverursachern und gleichzeitigen Profiteuren ist seit dem 14. Jahrhundert ein stets wiederkehrendes Element antijüdischer Zuschreibungen. Epidemien wie Lepra, Pest, Cholera, Typhus, Schweinegrippe, Ebola, Vogelgrippe, SARS und COVID-19 boten und bieten eine willkommene Plattform für antisemitische Verschwörungsfantasien, die Juden als Unruhestifter, Krisenauslöser und -gewinnler sowie Verursacher allen Übels imaginieren.

Aus: Édouard Drumont, La France juive, siehe Anm. 2
Vor dem Hintergrund einer dörflichen Szenerie sind drei um einen Brunnen gruppierte Figuren zu sehen. Die linke männliche Person ist durch ihre bandagierten Gliedmaßen als Leprakranker markiert. Die mittlere Figur, die wegen der Fußlappen wohl ebenfalls als leprakrank inszeniert werden soll, gießt eine Flüssigkeit aus einem Krug, der einem zur rituellen jüdischen Waschung verwendeten Aquamanile gleicht, in den Brunnen. Mit deutlichem Abstand zu den Leprakranken dominiert das Geschehen ein Mann in dunkler Kleidung, der als Strippenzieher über die geheime Aktion zu wachen scheint. Diese Figur weist einige zentrale Elemente der antisemitischen Darstellungstradition auf. Das typische Konstrukt einer „jüdischen Physiognomie“ manifestiert sich in seiner langen, leicht gekrümmten Nase, optisch verstärkt durch die heruntergezogenen Mundwinkel und den Vollbart, sowie einem Gesichtsausdruck, der als verschlagen wahrgenommen werden kann. Im Unterschied zu den beiden anderen Figuren, die eine typisch mittelalterliche Gürteltasche tragen, ist „der Jude“ mit einem Geldsack attribuiert, der auf das klassische judenfeindliche Stereotyp des angeblichen jüdischen Reichtums und der Geldgier anspielt.
Die Stürmer-ähnliche Karikatur zeigt eine Fratze mit einer überzeichneten Nase, einem ungepflegten Vollbart, mit Kippa, sich hinterlistig ins Fäustchen lachend und die Hände reibend ob des zu erwartenden finanziellen Gewinns (siehe hier). Attribuiert mit einer Spritze und einem doppeldeutigen Warnschild stellt sie – wie seinerzeit der angeblich „Brunnen vergiftende Jude“ – ein einfaches Mittel dar, um „die Juden“ zum Sündenbock für die globale Krise in Folge der COVID-19-Pandemie zu deklarieren und eine vermeintlich simple Erklärung für komplexe, schwer zu verstehende Sachverhalte zu liefern: „Die Juden“ würden das Virus verbreiten, um von der Krise wie vom zu entwickelnden Impfstoff zu profitieren.
[1] Daniel Freeman et al., Coronavirus Conspiracy Beliefs, Mistrust, and Compliance with Government Guidelines in England, in: Psychological Medicine, online veröffentlicht am 21. Mai 2020, https://doi.org/10.1017/S0033291720001890 [abgerufen am 16.06.2020], S. 6.
[2] Édouard Drumont, La France juive. Essai d’histoire contemporaine. Édition illustrée de scènes, vues, portraits, cartes et plans d’après les dessins de nos meilleurs artistes, Paris, undatiert, S. 145. ALAVA – TU Berlin, Inventarnummer 7799. Die nicht-illustrierte Erstausgabe von La France juive erschien 1886. Vgl. dazu Bjoern Weigel, La France Juive (Édouard Drumont, 1886), in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 6: Publikationen, hrsg. von Wolfgang Benz, Berlin 2013, S. 215-217.
[3] Die Lithografie trägt die Signatur „NAVELLIER-MARIE. S.“, hinter der die französischen Xylografen und Kupferstecher Narcisse Navellier und Alexandre Léon Marie standen. Das Duo produzierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unzählige Stiche für Publikationen unterschiedlichster Art. Ob Navellier und Marie den hier vorliegenden Stich im Auftrag Drumonts für dessen Werk La France juive anfertigten, oder ob er bereits früher in einem anderen Kontext entstanden war, ist bislang nicht bekannt. Zudem ist zu vermuten, dass der Stich auf Grundlage einer Zeichnung eines anderen, bis dato unbekannten Künstlers erstellt wurde.